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Die Gartenarbeitsschule in Berlin Neukölln - August Heyn, 1921

"100 Jahre Gartenarbeitsschule in Neukölln – Seite 3 Die Gartenarbeitsschule in Berlin-Neukölln August Heyn, 1921 Einen Schritt auf dem Wege zur neuen deutschen Einheitsschule haben wir in Neukölln zweifellos getan; aber am Ziel sind wir noch lange nicht. Ganz abgesehen davon, daß diesem ersten Schritt noch mancherlei Mängel anhaften, die ja schon zugegeben wurden, sind noch eine Reihe Grundforderungen zu stellen. Die Gartenarbeitsschule mit umfangreichem Werkstättenunterricht muß zum Stamm der ganzen Schule werden, aus dem die anderen Fächer wie Äste und Zweige herauswachsen, aus dem sie ihre Kraft schöpfen. Der naturwissenschaftliche Unterricht muß auch Hauptfach werden. Die Wurzeln dieses Stammes müssen bis in den Kinderhort reichen und der Wipfel bis in die Hochschulen ragen. Die ganze Einheitsschule denke ich mir aus dem Arbeitsstamm des Gartens, der Landwirtschaft und der Werkstätten gewachsen; mithin gehört in die Gartenarbeitsschule die gesamte Jugend, die öffentlich erzogen und unterrichtet werden soll bis zum 18. Lebensjahr mit obligatorischem Besuch. Die Gartenarbeitsschule muß zur vollkommen Schulgemeinde werden, ein Abbild der Gemeinde und des Staates, für welche die Schüler erzogen werden. Darum sind nach und nach die Einrichtungen zu schaffen, die das Gemeinschaftsleben ermöglichen. Darum müssen in dieser Schule die nötigen Werkstätten, Unterrichtsräume, ein Laboratorium, eine Haushaltungsküche, Wohnungen für den Leiter und Schuldiener, die nötigen Stallungen für Vieh, Schutz- und Lesehallen für die Eltern, Buddelplätze und Sandkästen für die Kleinen erbaut werden. Damit die körperliche Erziehung nach den Forderungen der Gegenwart erfolgen kann, gehört hierher auch ein Licht- und Luftbad, das gleichzeitig rhythmisch-gymnastischen Turnübungen dienstbar gemacht werden würde, wobei statt Klavierspiel unsere Jungen und Mädchen die Laute schlagen könnten, Wir haben Badegelegenheit, noch fehlt das offene Bad und die Halle für die Nichtschwimmer. Obligatorischer Schwimmunterricht sollte überall eingeführt werden. Damit auch ein vollkommener physikalischer Unterricht erteilt werden kann, gehören in die Gartenarbeitsschule auch die notwendigen Lehrmittel, möglichst auch eine Wetterstation. Wenn so diese Schule eingerichtet ist und der naturwissenschaftliche, mathematische und Werkstättenunterricht im Mittelpunkt des Ganzen stehen, dann habe ich die Überzeugung, daß, wie das hier beim Raumlehrerunterricht schon geschehen ist, fast alle Fächer aus diesem Arbeitsunterricht am wirklichen Stoff in dieser Schulgemeinde erfolgreich schöpfen können, ja schöpfen müssen; denn für die Kinder, die einmal die Schönheiten der Natur und praktische Erfolge gefühlt haben, werden sie ein Quell, der bald übersprudelt und zum Strom anwächst, der das benachbarte Land befruchtet. Aus: August Heyn: Die Gartenarbeitsschule in Berlin-Neukölln, 1921, S. 78 bis 79 Soll ein Samenkorn aufgehen, braucht es guten Nährboden. Soll die Pflanze Früchte tragen, braucht sie einen guten Gärtner. Solch ein Samenkorn war die reformpädagogische Idee einer Gartenarbeitsschule, in der Kinder regelmäßigen Unterricht im Freien haben. Bis 1920 gab es so eine Einrichtung in Deutschland nicht. Der Nährboden war die junge Demokratie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Ende des Kaiserreiches. Und ohne einen Gärtner wie den Lehrer August Heyn hätte die Pflanze nicht so schnell Früchte getragen. Seine Schule, östlich des Britzer Hafens gelegen, wurde zum Vorbild für viele Gartenarbeitsschulen, die seither eine bewegte Geschichte erlebt haben. 100 Jahre später gibt es den Schulstandort am Teltowkanal nicht mehr. Die Gartenarbeitsschule in der Fritz-Reuter-Allee 121 aber beweist, dass die Idee auch in Neukölln überlebt hat und noch immer fruchtbar ist. Ihr Name „August Heyn“ soll an den Gründer der ersten Gartenarbeitsschule erinnern. Zunehmende Umweltzerstörung und Naturentfremdung führen dazu, dass sein Schulmodell nichts an Aktualität eingebüßt hat und ein wichtiges Werkzeug handlungsorientierter Bildungsarbeit ist.

Die Wurzeln der ersten Gartenarbeitsschule Mut zum Experiment: Ein neuer Schultyp entsteht Mit dem Wachstum der Städte und dem Schwinden eines naturnahen Umfeldes der Schulen stieg der Bedarf an botanischem Anschauungsmaterial. In Berlin entstand 1875 ein zentraler Pflanzenliefergarten am Rande des Volksparks Humboldthain. Später siedelte er nach Berlin-Blankenfelde um. Von dort wurden über 400 Schulen mit Pflanzen versorgt – zur Betrachtung im Klassenzimmer. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs sah der Lehrer August Heyn kommende Hungersnot voraus. Er richtete 1915 auf Brachland am Teltowkanal „Schulkolonien“ ein. Hier konnten Kinder unter seiner Anleitung Gemüse anbauen und so die Not ihrer Familien lindern. Ein Jahr später wurden diese, auch „Kriegskolonien“ genannten, Gärten der Schulverwaltung unterstellt und erweitert. Nachdem Heyn Soldat wurde, verfielen sie aber. Erste deutsche Schulgärten gab es in Halle (Saale) und Würzburg bereits im 17. Jahrhundert. In Berlin gründete der Theologe Johann Julius Hecker 1747 am Potsdamer Thor einen Schulgarten (nahe dem heutigen Potsdamer Platz). Weitere Schulgärten folgten, jedoch längst nicht für jede Lehranstalt. Ende des 19. Jahrhunderts entstand die Lebensreformbewegung, die aus der Enge der Städte zurück zur Natur drängte. Sie war eine Reaktion auf die fortschreitende Industrialisierung und das starke Bevölkerungswachstum. Schulreformer*innen besannen sich auf den Universalgelehrten Comenius. Er forderte schon 1638 für Kinder eine Schule mit „Garten, in den man sie ab und zu schicken soll, dass sie sich am Anblick der Bäume, Blumen und Gräser freuen können.“ Auch Pestalozzis Vision eines ganzheitlichen Unterrichts für „Kopf, Herz und Hand“ wurde von Pädagogen wie Hugo Gaudig, Paul Natorp und Georg Kerschensteiner aufgegriffen. Sie setzten sich für eine soziale Pädagogik ein – weg von der Autoritäts- und Buchschule, hin zum gemeinsamen Leben und Arbeiten. An diese Ideale knüpfte August Heyn mit seiner Gartenarbeitsschule an.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs sah der Lehrer August Heyn kommende Hungersnot voraus. Er richtete 1915 auf Brachland am Teltowkanal „Schulkolonien“ ein. Hier konnten Kinder unter seiner Anleitung Gemüse anbauen und so die Not ihrer Familien lindern. Ein Jahr später wurden diese, auch „Kriegskolonien“ genannten, Gärten der Schulverwaltung unterstellt und erweitert. Nachdem Heyn Soldat wurde, verfielen sie aber. Als der Krieg zu Ende war, blieb der Hunger. In der von Armut geprägten Arbeiterstadt Neukölln waren die Wohnverhältnisse katastrophal, in den Klassenzimmern drängten sich oft bis zu fünfzig Kinder. Viele litten an Tuberkulose oder Rachitis. Heyn wollte etwas dagegen tun und nutzte seine Erfahrungen mit den Schulkolonien. Als SPDAbgeordneter in der Neuköllner Stadtverordnetenversammlung setzte er sich für die Einrichtung von Gartenarbeitsschulen ein, um allen Schüler*innen Zugang zur Natur zu schaffen. Mit Erfolg: Am 22. Dezember 1919 beschloss der Magis trat die Schaffung des neuen Schultyps. Es gab Bedenken wegen der Kosten, aber Stadtschulrat Artur Buchenau beauftragte schließlich August Heyn mit dem Aufbau der Schule. Am 1. April 1920 nahm die erste Gartenarbeitsschule unter Heyns Leitung die Arbeit auf. In seinem Buch „Die Gartenarbeitsschule“ schrieb August Heyn 1920: „Meine lebhaftesten Jugenderinnerungen stammen fast alle aus dem schönen Garten der Eltern… Hier liegen die ersten Wurzeln meiner Gartenbaukenntnisse und meiner Liebe zur Natur.“ Geboren wurde August Heyn am 18. Januar 1879 in Reetz / Neumark (heute Recz in Polen). Nach der Lehrerausbildung in Friedeberg / Neumark begann er mit zwanzig Jahren den Schuldienst. Eine wichtige Station seiner Laufbahn war der Ort Reppen (heute Rzepin in Polen), wo er sich einen Obstgarten anlegte. In diesem Garten beobachtete der Lehrer an seinen eigenen Kindern „den großen bildenden, erziehlichen und stärkenden Einfluß der lebendigen Natur“. 1909 ver ließ er die Idylle und trat in den Schuldienst Berlins ein, wo er die überfüllten „Schulkasernen“ kennenlernte. Inspiriert von seinen Erfahrungen als Landlehrer setzte er sich in Neukölln dafür ein, Kinder im Freien zu unterrichten. 1920 war er am Ziel: Als Leiter der ersten Gartenarbeitsschule konnte er seine Idee mit Erfolg umsetzen. 1924 wurde Heyn in den einstweiligen Ruhestand versetzt, vermutlich aufgrund der Finanznot Berlins. Er kehrte mit seiner Familie zurück nach Reppen auf sein Grundstück mit 200 Obstbäumen und verkaufte nun Obst und Spargel. Im letzten Kriegsjahr, Anfang 1945, musste er aus dem Ort fliehen, da die sowjetische Armee immer näher rückte. August Heyn lebte seitdem bis zu seinem Tod am 13. Dezember 1959 in Berlin. Die Neuköllner Gartenarbeitsschule war für sechs in der Nähe gelegene Schulen zuständig. Die Lage war günstig: Der Kanal sorgte für Wasser, ein Sport- und Spielplatz sowie eine Gärtnerei grenzten an die 15 Morgen große Fläche. Jede Schule hatte auf dem Gelände einen Bereich mit einzelnen Klassenbeeten, auf denen jedes Kind sein eigenes Beet von 8 bis 10 qm Größe individuell bearbeiten konnte. Es gab auch Lehr- und Gemeinschaftsgärten, die schon im ersten Jahr 50 Zentner Kar toffeln, 1000 Kohlköpfe, 6 Zentner Tomaten und anderes Gemüse erbrachten. Der Schuldiener, der eine Art Hausmeisterfunktion hatte, brauchte einen Wachhund, um die Ernte vor Dieb*innen zu schützen. Die Einnahmen aus dem Verkauf dienten zur teilweisen Deckung der Betriebskosten. Der Hauptweg führte an dem von Schülern gebauten Ziehbrunnen vorbei zu den offenen Unterrichtshallen, wo sich auch das Amtszimmer des Leiters und zwei geschlossene Räume für Unterricht bei schlechtem Wetter befanden. Die Seitenflügel beherbergten Werkstatt und Stallungen, es gab Hühner, Kaninchen, Tauben, Ziegen und auch einen Bienenstand. Sogar für eine Suppenausgabestelle war gesorgt, wo es in den Pausen für 10 Pfennig warme Suppe gab. Durch die Lage am Teltowkanal konnten die Kinder Schiffer bei ihrer Arbeit beobachten, sahen die Lastkähne mit ihrer Fracht, Kräne und Bagger – alles „lebende Anschauungsmittel“ für den Unterricht. Das Konzept: Arbeit, Lernen, Sport und Spiel Das Neuköllner Modell macht Schule Von April bis Oktober kamen aus sechs Volksschulen jährlich rund 2000 Mädchen und Jungen des 4. bis 8. Schuljahres in Begleitung ihrer Lehrer*innen in die Gartenarbeitsschule - die Jüngeren einmal, die Älteren zweimal in der Woche. Der Stundenplan sah pro Tag jeweils zwei Stunden Naturkunde, eine Turn- und eine Spielstunde, sowie eine Stunde nach freier Wahl vor. Fächer wie Raumlehre, Rechnen, Geografie, Religion oder Gesang fanden nach Möglichkeit im Freien statt. Im Naturkundeunterricht legten die Kinder zunächst klassenweise unter Anleitung der Lehrkräfte Musterbeete an. Danach sollten sie das Gelernte auf ihren eigenen Beeten umsetzen. Die Neuköllner Gartenarbeitsschule stieß auf breites öffentliches Interesse. Zahlreiche Deputationen und Lehrervereine aus ganz Deutschland besuchten 1920 die neue Einrichtung. August Heyn warb in Vorträgen und Artikeln leidenschaftlich dafür, dass jede Schule einer Gartenarbeitsschule angeschlossen sein sollte. Elternbeiräte richteten nach Besichtigung seiner Schule Resolutionen an den Magistrat, mit der Forderung nach weiteren Einrichtungen dieser Art. Auch die Presse beschrieb das Neuköllner Reformprojekt als bahnbrechend. Die Comenius-Film GmbH drehte sogar zwei Stummfilme in Heyns Schule, der zweite wurde 1924 unter dem Titel „Das Großstadtkind und die Gartenarbeitsschule“ in der Urania uraufgeführt. Zunehmend wurde in der Gesellschaft eine Verrohung der Jugend durch die „verheerenden Wirkungen der Kinosucht“ und „Schundliteratur“ beklagt. Auch deshalb reagierten die Medien positiv auf die Ankündigung neuer Gartenarbeitsschulen in Wilmersdorf (1921), Schöneberg (1922), Lichtenberg und anderen Berliner Bezirken. In Neukölln gab es 1924 bereits sieben weitere Gartenarbeitsschulen, zum Beispiel seit 1922 an der Geygerstraße, der Rütlistraße und der Wussowstraße. August Heyn hatte in den vier Dienstjahren am Teltowkanal Pionierarbeit geleistet. Sein Nachfolger, Rektor Hans Hühne, konnte eine Musterschule übernehmen." Aus der Festschrift: Mit allen Sinnen Die Natur als Lehrmeisterin 100 Jahre Gartenarbeitsschule in Neukölln Seite 3-11 Eine Ausstellung des Mobilen Museums Neukölln Verantwortlich: Dr. Udo Gößwald Konzept, Recherche & Text: Angelika Reichmuth Koordination und Redaktion: Julia Dilger Gestaltung: Claudia Bachmann Illustrationen Nenilkime / Freepik und Freepik Wir bedanken uns für die Unterstützung: Auguste Kuschnerow; Yasmin Mosler-Kolbe; Barbara Igel; Isabell Simonsmeier, Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie; Bärbel Ruben, Bezirksamt Neukölln, Abt. Bildung, Schule, Kultur und Sport; Sonja Miltenberger, Museum Charlottenburg-Wilmersdorf; Landesarchiv Berlin; Dr. Berthold Romberg; Freilandlabor Britz e. V. Ganz besonderer Dank geht an: Dieter Henning